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Familienleben

Muttersein, Vatersein und Kind sein heute

Fachartikel von Dr. med Michaela Glöckler

Wer von uns blickt auf eine Kindheit zurück, in der er wirklich Kind sein durfte, in der er erlebt hat, was es heißt, eine Mutter, einen Vater zu haben?

Der französische Literatur-Professor Jacques Lusseyran, der in der frühen Kindheit erblindete, sagt über diese Zeit: „Meine Eltern – das war Schutz, Vertrauen und Wärme. Wenn ich an meine Kindheit denke, spüre ich noch heute das Gefühl der Wärme über mir, hinter mir und um mich, dieses wunderbare Gefühl, noch nicht auf eigene Rechnung zu leben, sondern sich ganz mit Leib und Seele auf andere zu stützen, welche einem die Last abnehmen. Meine Eltern trugen mich auf Händen, und das ist wohl der Grund, warum ich in meiner ganzen Kindheit niemals den Boden berührte. Ich konnte weggehen, konnte zurückkommen, die Dinge hatten kein Gewicht und hafteten nicht an mir. Ich lief zwischen Gefahren und Schrecknissen hindurch, wie Licht durch einen Spiegel dringt. Das ist es, was ich als Glück meiner Kindheit bezeichne, diese magische Rüstung, die – ist sie einem erst einmal umgelegt – Schutz gewährt für das ganze Leben.“ (Aus „Das wiedergefunde Licht“)

Wilhelmine von Preußen hat ganz andere Erfahrungen in dieser Zeit gemacht. Sie berichtet von den ungezählten Misshandlungen bis ins Volksschulalter hinein, die sie heimlich von Seiten ihrer Erzieherin Letti erfuhr. Mutter und Vater waren hinter der Königin und dem König zurückgetreten und wurden nicht als solche erlebt. An den Großvater jedoch, der sich ihrer in den ersten Lebensjahren angenommen und sie sehr geliebt hat, erinnert sie sich mit größter Dankbarkeit.

Jean Luis Barrault erzählt, wie er als 6jähriger draußen vor dem geöffneten Fenster dem Streitgespräch seiner Eltern lauschte, dem er entnahm, dass sie sich trennen wollen. Er schreibt darüber: „Warum? Ich begreife nichts, aber ich habe die Empfindung, dass die Mauern unseres Hauses einstürzen. Mein Herz bricht entzwei. Ich laufe weg, verstecke mich im Buchsbaumgebüsch und weine.“ (Aus „Kindheiten“, dtv)

Eine Kindheit, Mutter und Vater – jeder von uns hat sie, aber was wir davon erlebt haben, was uns daraus als Stärkung oder Schwächung lebenslang begleitet, ist unsäglich verschieden und hat seine Auswirkung auf das ganze weitere Leben. Laufend erscheinen neue Bücher wie z. B. Neill Postmans „Das Verschwinden der Kindheit“ (Fischer Verlag). Die neuen Medien und die technisierten Haushalte bringen die Welt der Erwachsenen tagtäglich in den Erlebnishorizont der Kinder herein. Auch das Mütterliche und Väterliche tritt für das Bewusstsein der Kinder häufig zurück: die Eltern lassen sich vielfach beim Vornamen nennen, geben sich partnerschaftlich, als ob die Kinder schon erwachsene Partner wären. Vieles geschieht heute in der Welt, um schutzgebende Kindheit zu verhindern, um das echt Väterliche und Mütterliche zu verdecken.

Dieser Beitrag möchte Hinweise darauf geben, wo wir heute konkret anfangen können, ganz bewusst Kindheit zu pflegen. Wie erstrebenswert es ist, Kindheit so zu gestalten, dass der Rückblick im späteren Leben so werden kann, wie es Lusseyran von seiner Kindheit beschrieben hat: Dass Sie eine Kraftquelle für ihn war, die dazu führte, das Leben auch dann zu lieben, nachdem ihm die Probleme der eigenen Zeit bewusst geworden waren (er war eine Zeitlang im KZ inhaftiert) und er erfahren hatte, wie viel eigenes und auch fremdes Leid zu bewältigen ist. Menschen mit einer glücklichen Kindheit, die vertrauensvoll zu Vater und Mutter aufblicken durften, stehen später mit einem unerschütterlichen Existenzvertrauen im Leben und haben es leicht, auch mit Verehrung das Göttliche in der Schöpfung wahrzunehmen. Interessiert und hilfreich können sie sich der Umwelt zuwenden. Wer jedoch von klein auf angehalten wurde, vieles selbst zu entscheiden, zu bestimmen, zu beurteilen, wer nicht erleben durfte, wie er selbstsicher in die Entscheidungen der Erwachsenen mit eingebunden war und vertrauensvoll sich ihrer Urteilssicherheit hingeben durfte, nimmt eine innere Unsicherheit mit ins Leben. Diese äußerst sich so, dass das Interesse sich mehr an die Sorge um das eigene Wohl und Wehe, an die Frage nach der eignen Sicherheit bindet, statt sich offen und liebevoll den Problemen der Umwelt hinzugeben.

Mit dem Wort „Vater“ oder „Papa“ bezeichnet das Kind nicht nur einen individuellen Menschen, der diese Aufgabe übernommen hat – sondern mehr: das nämlich, was als Ideelles mitschwingt und in religiösen Urkunden als der „Himmlische Vater“ angesprochen wird. Ebenso ist mit „Mutter“ bzw. „Mama“ auf das gedeutet, was über den Menschen hinaus das mütterliche Element verkörpert, die „Erdenmutter“, das Getragen-, Geschützt, und Ernährtwerden. Bemühen sich die Eltern darum, sich nicht nur so zu geben, wie sie als persönliche Alltagsmenschen sind, sondern etwas über diesem persönlichen Ideal anzustreben und womöglich zu verwirklichen, so wird dies von dem Kind als etwas erlebt, worauf es später mit Dankbarkeit zurückblicken kann. Es wird ihm dadurch auch der Sinn für menschliche Entwicklung erschlossen: dafür, was es bedeutet, dass der Mensch seelisch und geistig über das hinauswachsen kann, wozu er durch Natur und Begabung veranlagt ist.

Das heißt natürlich nicht, dass die Eltern den Kindern eine Vollkommenheit vorspiegeln sollen, die sie gar nicht besitzen. Vielmehr wird das ehrliche Bemühen um diese Qualität eine positive Wirkung zeigen. Um zu lernen, in echter Weise Vater oder Mutter zu werden, versuche man sich zu vergegenwärtigen, was das Kind in seinem jeweiligen Lebensalter zur Förderung seiner Entwicklung braucht. In der Vorschulzeit sind es vor allem Nahrung, Schutz und liebevolle Nähe sowie vielfältige Anregungen zum Tätigsein. Da das Kind von sich aus noch nicht die Möglichkeit hat, sein Leben selber zu gestalten und zu ordnen, bedarf es der Regelung und Ordnung seiner Verhältnisse durch den Erwachsenen. Je klarer und selbstverständlicher das geschieht in Form von guten Gewohnheiten, regelmäßigem Essen und Schlafen, Spielen und Ruhen, um so selbstverständlicher und sicherer findet sich das Kind zurecht, um so zufriedener wird es sein. Hier hat die Qualität des Mütterlichen ihr hauptsächliches Lebensgebiet.

In der Schulzeit wird dann das väterliche Element wichtiger. Das Kind sucht jetzt das Vorbild eines Menschen, der fest im Leben steht, mit Schwierigkeiten fertig wird und Sicherheit hat im Urteil und Sich-Entscheiden.
Nach der Pubertät wird für den Jugendlichen besonders wichtig, wie die Eltern miteinander im sozialen Leben umgehen. Ideale sind menschlichen Zusammenlebens bilden sich in diesem Alter aus und wirken prägend für die eigene spätere Lebensgestaltung.

Früher waren die Aufgaben von Vater und Mutter durch das gesellschaftliche Leben festgelegt. Heute sind wir freier im Gestalten der häuslichen und beruflichen Verhältnisse. Der „Hausmann“ und die berufstätige Mutter bringen es mit sich, dass nicht immer das väterliche Element vom Vater und das mütterliche von der Mutter repräsentiert wird. Deswegen ist es so entscheidend, dass der ideelle Aspekt des Väterlichen und Mütterlichen erfasst wird. Dann kann auch der Vater bis zu einem gewissen Grade die mütterlichen Qualitäten der Innerlichkeit, des Umsorgens und Pflegens übernehmen. Umgekehrt kann die Mutter diejenige sein, die dem Kind die Orientierung gibt für das Im-Beruf-Stehen, für die Auseinandersetzung in Zeitfragen und die Art, mit dem Leben fertig zu werden.

Wir werden durch das Verhalten unserer Eltern entscheidend mitgeprägt. Je stärker sich Vater und Mutter dieser Tatsache bewusst werden und hierin eine Aufgabe für die eigene Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung sehen, um so mehr kann Kindheit wieder eine Zeit werden, in der man das Vertrauen in die eigene Existenz und die Liebe zur Welt entwickeln lernt – eine Zeit, in der man Kräfte sammeln darf und Zuversicht gewinnt für das ganze Leben.

Info: Dr. med. Michaela Glöckler ist 1946 in Stuttgart geboren. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Heidelberg sowie Medizin in Tübingen und Marburg, seitdem als anthroposophische Ärztin tätig. Seit 1988 leitet sie die Medizinische Sektion am Goetheanum, Freie Hochschule für Geisteswissenschaften in Dornach / Schweiz.

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